Samstag, November 26

XV. Tomas Tranströmer, Die Erinnerungen sehen mich


Mein Leben. Wenn ich diese Worte denke, sehe ich einen Lichtstreifen vor mir. Bei näherer Betrachtung hat der Lichtstreifen die Form eines Kometen, mit Kopf und Schweif. Das lichtstärkste Ende, der Kopf, sind die Kindheit und das Heranwachsen. Der Kern, sein dichtester Teil, ist die frühe Kindheit, wo die wichtigsten Züge in unserem Leben festgelegt werden. Ich versuche, mich zu erinnern, versuche dahin vorzudringen. Aber es ist schwer, sich in diesen verdichteten Bezirken zu bewegen, es ist gefährlich, ein Gefühl, als käme ich dem Tode nahe. Weiter hinten verdünnt sich der Komet - das ist der längere Teil, der Schweif. Er wird immer spärlicher, aber auch breiter. Ich bin jetzt weit im Kometenschweif drinnen [...] (S. 9)

Die Erinnerungen sehen mich
von Tomas Tranströmer ist ein sehr schmales Buch, knappe 80 Seiten, die in weniger als eine Stunde genussvoll gelesen werden. Der eigentlich von seiner Lyrik bekannte Tomas Tranströmer, mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet, entschied, im Alter von sechzig Jahren die Erinnerungen an seiner zerstückelten Kindheit aufzuschreiben. Sein in 8 Kapitel geteilten Prosastück ist eine unprätensiose chronologische Biographie des Autors, ein Versuch seine Kindheit erneut zu gestalten.

Sohn einer alleinerziehenden und berufstätigen Mutter, der Ich-Erzähler entdeckt seine Stadt, Stockholm, und die Welt an der Hand seines Grossvaters: die Museen, die Bibliotheken, der Krieg, die Schule, das Heranwachsen. Alles ist sehenswert, alles ist bewundernswert und die Welt ist eine Bühne, auf der die Menschen sich bewegen. Ja, sie versuchen stets das Beste daraus zu machen. Der schüchterne Junge, der uns seine Geschichte erzählt, fühlt sich schnell als Aussenseiter. Seine Welt dreht sich in eine andere Richtung als die von allen anderen und seine Interessen weichen stark von den Interessen anderer Kinder ab. Wir wandern mit dem Ich-Erzähler durch Strassen, Museumshallen und Buchblätter. Tranströmer verarbeitet nicht seine Kindheit... er bestaunt seine Erinnerungen, ohne dass er sie analytisch bewertet. Sein verzaubernden Ton lehnt jedes Abstandsversuch des Erwachsenseins ab und nagelt jeden Bruchteil seiner Kindheit in einem atmosphärischen literarischen Verfahren an einander.

Der letzte Kapitel "Latein" bringt der Leser zurück zum Kometenschweif. Der introvertierte Junge lernt die Form des Gedichts kennen und genau hier darf die Prosa zu Ende kommen.

Donnerstag, November 10

XIV. Willa Cather, Die Frau, die sich verlor


"Stets war sie da, vor der Haustür, um ihre Gäste willkommen zu heißen, deren Nahen Hufschlag und Räderrollen von der Holzbrücke her angekündigt hatten. Wenn sie gerade in der Küche stand und ihrer böhmischen Köchin half, kam sie in der Schürze heraus und schwenkte einen butterbeschmierten Eisenlöffel oder drohte dem Neuankömmling mit kirschgefärbten Fingern. Nie hielt sie sich damit auf, eine Locke hochzustecken. Sie wirklte selbst im Hauskleid reizvoll, und das wußte sie. (...) In seinen Augen und in den Augen der anderen Bewunderer mittleren Alters, die dort verkehrten, war alles "lady-like", was Mrs. Forrester tat, weil sie es tat." (S. 12)

Die Geschichte von der Frau, die sich verlor ähnelt ein typisch amerikanisches Melodram der 50er Jahre. Die glamouröse Bilder, die zwar nur in der Oberfläche sich aufrechterhalten können, werden sorgfältig beschrieben, als ob Willa Cather Hinweise für einen noch nicht gedrehten Film geben wollte. Marian Forrester ist eine junge, lebenslustige Frau, die einen Mann geheiratet hat, der fünfundzwanzig Jahre älter als sie ist. In verschiedene Momente der Erzählung sehe ich fast durch Marian Forrester ein Bild von Zelda Fitzgerald: dreist, stark und kreativ. Mrs. Forrester ist kein gewöhnliches Bildnis der Frauen ihrer Zeit. Vielleicht trank ein bisschen viel zu viel Sherry, vielleicht lachte sie doch ein bisschen zu viel oder war viel zu wohlwollend zu den jungen einfachen Männer Sweet Waters, aber jedoch stets zu sich selbst treu.

Es ist letztendlich eine Frage der kritischen Perspektive, ob Mrs. Forrester sich verlor oder sich vielmehr wiedergefunden hat. Während Niel, der schon seit seiner Kindlheit Mrs. Forrester heimlich liebte, mit dem Bild ihres sozialen Untergangs kämpfte, versuchte Mrs. Forrester sich von den Hindernissen ihrer verstorbenen Ära zu lösen und sich an das neue moderne Leben zu halten. Mrs. Forrester ist sicher einen ganz unkonventionellen Überlebende. Ja, Marian Forrester hat sich verloren, nicht nur aus der Sicht von Niel. sondern auch im Bezug auf die Werte ihrer noch sehr traditionellen Zeit. Aber, ist es nicht so, dass man erstmal was verlieren muss, um was neues zu finden?

Die Kritik war hart zu diesem Roman von Willa Cather. Neben den Vorwürfen eines exzessiven melodramatischen Tons, sind die Thematisierung von Ehebruch und ihre leichtsinnige Anspielungen an einem rein kapitalistischen Materialismus Objekt zwiespaltiger Blicke. Nichtsdestotrotz ist Willa Cather einer der markantesten Schriftstellerinnen ihrer Zeit.

Die Kritik