Montag, August 22

VII. Sensualistas, Cláudia Galhós (und die Nostalgie des Wiederlesens...)



Este mundo dá muitas voltas e as pessoas parece que ficam tontas com as voltas que o mundo dá.” (S. 7)


Das stimmt. Die Welt dreht sich kontinuierlich und, obwohl wir es nicht spüren, scheinen wir jedoch davon beeinflusst zu sein. Dieses Buch von Cláudia Galhós ist ein Versuch ein ästhetisches und erotisches Gespür in Worten umzusetzen. Es ist ein Diskurs von niemand oder vielleicht doch von jedermann. “Sensualistas” ist ein Teil meiner Jugend und aus diesem Grund auch immer eine neue Erfahrung. Im Bezug auf Yates ging es darum, ob wir, Leser, die Bücher aussuchen oder im Gegenteil ob die Bücher uns in dieser in sich gedrehten Welt suchen. Und finden. “Sensualistas” hat mich im Sommer 2001 gefunden und hat mich in seiner Rhythmik, in seiner sprachlichen Form und freche Ästhetik gefangen. Die kurze aber prägnante Kapitel und die teilweise filmische Beschreibungen einer modernen Gesellschaft des neuen Jahrhunderts sorgten damals für meine unerwiderliche Aufmerksamkeit.

Die Geschichte – eigentlich sollte sie eher im Plural beschrieben werden - also, die Geschichten kreuzen sich wie Menschen am Bahnsteig. Und Filipe, Sara und Marisa bewegen sich, jederzeit alleine, im menschlichen Durcheinander. Sie könnten wir sein: wir und die unendliche Suche nach Liebe, nach Freiheit, nach Leben. Die Figuren von Cláudia Galhós befinden sich in einem Grenzraum der Emotionen, welchem das Blut in ihren Adern pumpt. Wir lernen sie langsam kennen: Sara, Marisa und Filipe. Sie haben Geschichten, Erinnerungen, Träume und Ängste, die vielleicht nur wir kennen. Aber die anderen nicht. Die Erzählerin (aus irgendeinem Grund bin ich schon immer davon ausgegangen, dass die Erzählerin eine Frau ist) verwickelt ihren Leser in einem erzählerischen und ästhetischen Labyrinth, dessen Ende nicht zu finden. Das Ende von “Sensualistas” ist keine Auflösung, keine Antwort auf irgendwelche Fragen, die an einer bestimmten Stelle aufgemacht wurden. Das Ende dieses Romans kommt ihren Leser überraschend entgegen. Die Form des Romans von Cláudia Galhós schliesst den Kreis nicht nur inhaltlich, sondern auch ästhetisch. Es endet wo es angefangen... wie die näturliche Drehung der Welt.


Die Nostalgie des Wiederlesens ist was besonderes. Ich habe immer dieses Buch von Cláudia Galhós in Erinnerung gehalten. Es war ein Symbol meiner Jugend und vielmehr eine Tür für meine ästhetische und intelektuelle Entwicklung. Damals kannte ich schon die sarkastisch depressive Musik von PJ Harvey und Nick Cave, die dunklere Seiten der Poesie von Al Berto und die wunderschöne und einfache Geschichten von Mia Couto aber ihre Präsenz in Cláudia Galhós Roman bestätigt meine Interessen. Dieser Roman schenkte meine Gedanken eine Stimme, die sie bisher nicht kannten. Heute: sind mehr als zehn Jahre vergangen und ich fliege von Zuhause nach Hause in einer Routine, die mir damals noch nicht bewusst war. Filipe, Sara, Marisa und ich sind anders geworden und ich finde die romantische Züge nicht mehr, die mir damals an ihnen so fasziniert haben. Der Stil von Galhós klingt plötzlich nicht viel kreativer als die neue und erfolgreiche light Literatur, die in Portugal so berühmt geworden ist, und die Handlung verliert in einer zwanghaften alternativen Bewegung im Sinn. Nichtsdestotrotz, finde ich bei "Sensualistas" andere Ecken, die mir vor zehn Jahre verborgen geblieben sind: ein altes Liebespaar, das vom Tod im Schlaf überrascht wurde; eine für das Leben verletzte Schwester, die in einem Zimmer vom Leben versteckt wird; ein Vater, dessen jahrelanges Schweigen durch einen nomadischen Lebenslust beendet wurde. Die Nostalgie des Wiederlesens ist immer eine neue Erfahrung... ich weiß, es klingt gerade wie ein eigenartiges Paradox, aber ist es nicht so, dass wir uns immer ein Stück weiter besser kennen, wenn wir (fast!) vergessene Räume unserer Vergangenheit wiederfinden?

Dienstag, August 9

Wer sich dahinter versteckt...



"The text is a tissue of citations, resulting from the thousand sources of culture. Like Bouvard and Pecuchet, those eternal copyists, both sublime and comical and whose profound absurdity precisely designates the truth of writing, the writer can only imitate a gesture forever anterior, never original."
Roland Barthes


Texte, Romane, Kurzgeschichten,Gedichte, Drehbücher, Theaterstücke... die Texte gewinnen als Ganzes eine eigene Identität, die weit über die Linien des Körpers von einem Mensch geht. Der Mensch geht. Die Buchstaben bleiben.

Nichtsdestotrotz frage ich mich immer wieder, wer sich hinter der Buchstaben versteckt. Barthes hat dieser Figur umgebracht und ihre Originalität in Frage gestellt. Nach Barthes sind alle künstlerische Schritte eines Schriftstellers einfache Nachahmungen eines viel älteren Spurs. Schriftsteller verlieren an Bedeutung und werde meines Erachtens einfach als ein Mittel zum Zweck verstanden. Dieses poststrukturalistische Verschwinden des Subjekt eines Werkes verringert jedoch nicht mein Neugier auf den Gestalt, der hinter jedem Text steht. Ganz im Gegenteil! Ein Roman ist zwar keine Biographie aber ist es wirklich wahr, dass es komplett unabhängig von seinem Schöpfer ist? Ist es wirklich möglich, dass es keinerlei Bezugspunkte zwischen dem Schriftsteller und seinem Text existieren? Meine Schwierigkeit mit diesem literaturtheoretischen Ansatz ist die endgültige Abgrenzung zwei Instanz, die nur im Verhältnis zu einander existieren.

Diese neue Rubrik meines Blogs soll sich biographisch mit einigen meinen Lieblingsautoren beschäftigen: wer sie sind, was sie gemacht haben, wie sie gelebt haben... Die kurzfassende Biographien, die ich hier zukünftig präsentieren will, sind das Produkt eines Collages verschiedener Bücher, Antologien, Interviews, die ich über die verschiedene Autoren gelesen habe.


Montag, August 1

Elektronische Tanz-Lesung mit Ryo im Café Hilgenfeld, Erfurt


Das Wetter war definitiv auf unsere Seite: um 21h abend, schon eindeutig zu spät für den angemeldeten Termin, saßen noch alle neugierige Zuschauer gemütlich an den Holztischen vom Café Hilgendfeld mit Blick auf den Erfurter Dom. Die Sonne kämpfte noch eine Weile mit der Nacht, um uns noch ein bißchen seines Lichtes zu schenken. Die war kaum da die letzte Monate. Die Musik, die die unterschiedliche Gespräche und Diskussionen begleitete, lief melodisch im Hintergrund aber gleichzeitig auch auffordernd, als ob sie uns im Takt noch erinnern möchte, dass noch etwas kommen soll....

... plötzlich hörte die Musik auf.

Die Leute bewegten sich langsam hinein und suchten sie ein gemütlichen Platz. Wie sicherlich schon bekannt, ist das Café Hilgenfeld in Erfurt angenehm klein: klein und lauschig; klein und kaffeewohlriechend; eine richtige Atmosphäre für ein literarisches Beisamensein. Wir saßen alle: auf der Bank oder auf der Heizung, auf den Stühlen oder auf dem Boden. Einige standen an die Türrahmen. Ich war sehr gespannt, schon allein der Name der Veranstaltung öffnete zahlreiche Fragen, die nach eine rapide Antwort verlangt haben. Es war mein erstes Mal bei einer Lesung von Ryo. Ich hatte schon einiges über ihn gehört und wollte es dieses Mal nicht verpassen. Die Musik lief nun leiser als vorher, als ob sie für die zunehmende Ruhe des Publikums sorgen sollte. Sie stoppte. Die kleine Nachttischlampe ging an und Ryo laß. Die Harmonie zwischen Wort und Ton spiegelten die Lässigkeit der erzählten Atmosphäre wieder. Zum einen schenkte Ryos Stimme seiner Erzählung einen ganz besonderen sinnlichen Körper, indem sie genauso verschlafen, genauso aufgedreht, genauso bezweifelnd und genauso verliebt wie die Worten klang. Die Worten bedeuteten was seine Stimme spiegelte. Zum anderen tanzte die Musik mit der Stimme und den Worten in einer erweckenden Symbiose, welche das Publikum nur anstecken könnte. Alles passte zusammen: Ryos Stimme, sein Auftreten und gespürte Schüchternheit beim tanzen, die vorgelesene Geschichte, die Musik und die Momente der Erzählung. Und so ist die Zeit vergangen. Oscar kämpfte gegen seiner Gleichgültigkeit, gegen seinen Erinnerungen, gegen seinem Rausch und gegen seinen Gefühlen auf der Suche nach den utopischen Neuanfang, der sich kontinuierlich immer weiter von ihm entfernt. Die Geschichte von Oscar hat mich jedoch am Ende kurz enttäuscht. Auf einmal löste sich alles auf, als ob einen starken Wind plötzlich die Buchstaben Ryos Skript geweht hätte. Das Licht ging an, die Musik war aus und Ryo fasste in zwei viel zu unbefriedigende Sätze was mit unserem „Held“ passierte. Warum so plötzlich?

Erst nach der Vorstellung des hervorragenden DJ Nas’D und dem heißen Applaus dürften wir – die die noch sitzen geblieben sind - noch erfahren, dass den trotz erzählrerischer Enttäuschung in sich schlüssigen Text, den uns Ryo vorgelesen und -getanzt hat, seine persönliche Zusammenfassung des Romans „Sowas von da“ von Tino Hanekamp ist. Blitzartig hat sich die Enttäuschung in Überraschung gewandelt, die das „Leserwurm“ in mir erweckt hat.

Was danach passiert ist, kann ich leider nicht mehr berichten... aber ich glaube fest daran, dass es eine weiter angenehme musikalische und literarische Nacht war. In meinem Fall erwarb ich am nächsten Tag der viel versprechende Roman von Hanekamp.

Nun nur Sorbas zu Ende lesen und schon darf ich auch mittanzen.